Eröffnungsrede von Dr. Berthold Ecker am 21.4.2006
Vernissage Gerlinde Thuma, Denkraum Bacherplatz

Erst unlängst wurde in einer der geistreichsten Kritiken zur Jahrhundertausstellung „Melancholie“, die Jean Clair für Paris zusammengestellt hat und die in erweiterter Form derzeit in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen ist, der klassischen schwermütigen Versunkenheit mit aufgestütztem Kopf und weltverlorenem Blick eine neue Typologie des 21. Jahrhunderts gegenübergestellt. In der rastlosen Hast und Getriebenheit, aus der wir uns alle nur schwer befreien können, sah Niklas Maak das Sinnbild einer neuen Melancholie, die schon in der klassischen Moderne, etwa bei Otto Dix ihre Vorläufer hat.

Die schnell dahinstürzende Flut an Informationsreizen verändert zwangsläufig die Wahrnehmung in Richtung auf reflexartiges Erfassen von zu Piktogrammen verkürzten Aussagekomplexen. In dieser Verkürzung liegt natürlich die Gefahr eines verarmten Erlebens und letztlich auch einer nicht einmal halben Wahrheit ohne ironische Untertöne.

Gerlinde Thuma widersetzt sich dieser kulturellen Automatik, sie setzt wieder das Auge mit dem wachen Verstand und Empfinden in Verbindung und erlaubt sich und dem Betrachter zu einem reichhaltigeren Verständnis der Dinge zu gelangen. Man könnte sagen sie errichtet mit ihrer Kunst einen Damm gegen die Schnelligkeit der Bilder, bringt den Fluss zur Ruhe und ermöglicht erst dadurch ein abwägendes Eindringen in den Gegenstand.

Thuma hat ihre Schulung als Trickfilmerin und Malerin bei Maria Lassnig abgeschlossen. Daraus folgt, sie hat mitten in einem enormen Boom der Malerei und gegen Ende des Jahrzehnts besonders auch der Zeichnung eine der besten Künstlerinnen unserer Zeit als Professorin gehabt und das kann man auch schon am hohen malerischen Niveau ihrer frühen Werke erkennen. In den Sammlungen der Stadt Wien befinden sich unter anderem drei Werke aus ihrem Diplomjahr, die neben der angesprochenen Malkultur auch schon ein besonderes, eigenwilliges Herangehen an die Motive zeigen. Das älteste Werk in unserer Sammlung ist die vier Jahre früher entstandene Bleistiftzeichnung mit dem Titel „stillliegen“. Sie zeigt hohe technische Beherrschung in einer Mischung aus weit getriebenem Naturalismus und teils expressiver Strichführung. Ein großer gekrümmter Dorn oder Nagel ragt aus einem Holzblock heraus, der auf einem Tisch für ein Stillleben stillliegt. Bedrohlichkeit und statuarische Stille werden zu einer hinterfotzigen Friedfertigkeit vereint und das Motiv gewinnt in seinem pointierten Arrangement unwiderstehliches Eigenleben. Schon in dieser Studentenarbeit ist dieselbe gedankliche Kraft und Vielschichtigkeit vorhanden, wie wir sie in den aktuellen Werken erleben dürfen.

Ebenfalls schon relativ früh war für Thuma der eine in der Darstellung gebannte Moment nicht mehr genug und sie wendet sich einer seriellen Arbeitsweise zu. Seither entstehen die für sie typischen Diptychen, Triptychen oder überhaupt vielteilige Serien.

Am Ausgangspunkt steht meist die Natur, als vereinzelte Form, bis an die Grenze zur Kenntlichkeit oder auch darüber hinaus verarbeitet, wobei die ursprüngliche Inhaltlichkeit und Eindeutigkeit gezielt einer Mehr und Vieldeutigkeit weicht. Die Zeit und die Bewegung stehen im Zentrum.

Zeit heißt Abfolge, es gibt immer ein vorher und nachher, sie ist etwas Dynamisches, das nur über ihr Sein erfahrbar wird. Sie ist gestaltlos aber nicht abstrakt, in so ferne als sie nicht festlegbar ist, weder auf eine Form oder Gestalt, noch auf einen Inhalt. Und zwar auf die eine Form oder den einen Inhalt. In diesem Verständnis ist Zeit gestaltlos, da sie alle Formen enthält, oder enthalten kann und deren Überlagerung so etwas wie eine Auslöschung von Gestalt bewirkt.

Thuma hat auch viel mit Musik zu tun, in der sich die Zeit zur Sinnlichkeit materialisiert, die selbst auch nur im Fortschreiten existiert und bei der die Überlagerung ihrer Elemente also der Töne zur Erscheinung des weißen Rauschen führen kann. In der Verdichtung der Abfolge beider Phänomene kommt es zur paradoxen Situation der grundlegenden Wesensveränderung indem etwas, je mehr es von sich selbst enthält - sich um so weniger ähnelt. Die Kompression der Zeit, der Farben oder der Musik erzeugt ein schwarzes Loch, in dem ihre Teile verschwinden.

Aber keine Angst, soweit geht Frau Thuma nicht und mir scheint der Eindruck der Wiedergabe verdichteter Wahrnehmung eher aus einer kontemplativen Grundhaltung zu kommen, einem Suchen nach tieferen Zusammenhängen und Formen der Wahrheit - oder um es weniger theatralisch zu sagen nach verschiedenen Möglichkeiten eines Soseins in der Welt.

Verschiedene Wahrheiten zu einem Ding oder einem Sachverhalt: das ist ein Stichwort, mit dem man das Zentrum dieses künstlerischen Bemühens berührt. Das insistierende und hoch geschulte denkende Sehen der Künstlerin erfasst nicht nur die äußere Erscheinung als optisches Abbild, sondern analysiert in einer forschenden Bewegung das Motiv. In unterschiedlich umfangreichen Abfolgen oft aber nur in der kleinstmöglichen Serie, in einem Diptychon wechselt sie die Zeit- und Blickpunkte des Erfassens. Damit ist wieder die Zeit angesprochen und die Relativität der Wahrheit.

Thuma entdröselt das erste durch die Konventionen der Wahrnehmung komprimierte Bild und fächert in ihrer differenzierten Handhabung der bildnerischen Mittel ein Spektrum der Wahrheiten auf. Es gibt kein „entweder oder“ mehr sondern nur noch ein „sowohl“ und viele „auchs“.

Damit greift sie auf den mittelalterlichen Entwurf der „Coincidentia oppositorum“ eines Nikolaus von Cues und Giordano Bruno zurück und überwindet in ihrem Ansatz das doch recht eindimensionale Diktat der Logik und des Dualismus. Die Diptychen betonen also nicht die Polarität und das Gegensätzliche einer Sache sondern stellen im Gegenteil die kleinste Möglichkeit vieler Möglichkeiten dar.

Mit ihren starken und sanften Überlegungen zum Wesen der Dinge, zum Fließen der Zeit, zu den verschiedenen Wahrheiten und zu den Ähnlichkeiten in den Unterschieden steht sie der krankhaften rapidité unseres derzeitigen Erlebens entgegen, und so wie schon die Alten der Musik große Heilkraft über die Melancholie zugesprochen haben, können ihre Werke für uns zum Pharmazeutikum der Wahrnehmung werden.

Ich wünsche einen verständigen Gebrauch der Medizin.

Dr. Berthold Ecker, Kulturabteilung der Stadt Wien